Forum ENA Alumni

Si l’Etat est fort, il nous écrase.
S’il est faible, nous périssons.

Paul Valéry (Charmes 1926)

Berlin, 3. Oktober 2022

Liebe Mitglieder,

in früheren Zeiten sprach man von einem politisch „heißen Herbst“. Wie sich dieser Herbst entwickeln wird, lässt sich bislang noch nicht absehen, obwohl in Deutschland bereits der Verfassungsschutz warnt. Ganz sicher aber hatten wir meteorologisch einen extrem heißen Sommer mit Rekordhitze, Waldbränden, wie man sie bislang allenfalls von den Mittelmeeranrainern oder aus Kalifornien kannte, und Niedrigwasser in den Flüssen mit Problemen für die Binnenschifffahrt. Die Energiepreise schießen in die Höhe, obwohl Analytiker meinen, dass bislang von Knappheit nicht die Rede sein kann, es allenfalls – aber nicht minder gefährlich – um Vertrauensverlust zwischen den Unternehmen geht. Wirtschaftswissenschaftler und Politik warnen vor schweren Zeiten.

„Nous vivons la fin de l’abondance“ kündigt Staatspräsident Emmanuel Macron an. Da ist es ein Trost, dass es in Deutschland im Anschluss an Gerry and the Pacemakers heißt „You never walk alone“, wenn auch Spötter mit AC/DC von einem „Highway to hell“ sprechen.

Der Vorstand hat sich die letzten Monate auf den verschiedensten Kanälen darum bemüht, für das Studium am neu geschaffenen „Institut national de service public“ zu werben, was angesichts des Verlustes des prestigeträchtigen Namens „ENA“ nicht einfach ist. Der DAAD, die Deutsch-Französische Hochschule und verschiedene deutsch-französische Studiengänge wie die in Berlin und Freiburg i. B. wurden mit dem beigefügten Papier angesprochen und haben ihre Unterstützung zugesagt. Man kann gespannt sein. Der Tod von Jean-Luc Godard am 13. September erinnert an die auch kulturell höchst erfolgreichen „Trente glorieuses“, in denen ein Studium in Paris für Viele allein schon aus dem Grunde attraktiv war, um wie Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg über die Boulevards schlendern zu können.

Wie schon in früheren Ausgaben haben wir wieder ein kleines Feuilleton in dieses „Forum“ aufgenommen. In diesem Zusammenhang: Im Berliner Maxim Gorki Theater wird am 3. Oktober „Dantons Tod“ gespielt. Sehr passend zu heutigen Situation lässt darin Georg Büchner den Jakobiner St. Just sprechen:

“Ist es denn nicht einfach, dass zu einer Zeit,
wo der Gang der Geschichte rascher ist,
auch mehr Menschen außer Atem kommen.“

Ins Auge gefasst sind für 26. Oktober die Vorstellung eines Buchs von Jochen Thies über Offenburg als „Stadt der Versöhnung“ im Jahre 1945, das Anlass auch für eine Diskussion des aktuellen Standes der Beziehungen gibt, eine Bilanz des Deutsch-Französischen Kulturbevollmächtigten auf Anregung von Dominik Fanatico am 16. November sowie die traditionelle Mitgliederversammlung in der Französischen Botschaft am 16. Dezember. Zu den Veranstaltungen erhalten Sie noch Einladungen.

„Pariser Notizen“

Unser „Pendler zwischen zwei Welten“ und Vorstandsmitglied Joachim Bitterlich hat uns einige – wie immer pointierte – Beobachtungen zur „rentrée“ aus Paris geschickt.

Unser Nachbar steckt in der Krise, zum Teil anders als wir, aber eher tiefer und mit offenem Ausgang. Das beginnt bei dem alles beherrschenden Thema „Kaufkraft“, „Inflation“ folgt eher als Untertitel. Es geht in der Sache um Preissteigerungen um rund 10%. Wir haben zum September eine fast fantastisch anmutende Senkung der Benzinpreise erlebt, generell auf 1,50 Euro – für den deutschen Besucher oder den grenznahen Nachbarn ein Geschenk – was steckt hinter diesem mehrfachen Nachlass? Die Firma Total versucht, den Blick von seinen hohen spekulationsbedingten Gewinnen abzulenken und die Regierung hat einfach panische Angst vor einem Wiederaufleben der „gilets jaunes“ und daher Geschenke und Nachlässe verteilt. Wir sind wieder im Grunde mitten bei Staatsausgaben „quoi qu’il coûte“ oder vor den Beratungen über den Haushalt 2023, die heiß zu werden versprechen.

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Präsident Emmanuel Macron versucht derweil, bei einem anderen Hochrisiko-Thema Zeichen zu setzen. Alle warten auf das Rezept, mit dem er und seine Regierung in die Konzertation mit den Sozialpartnern gehen werden. Thema ist die immer wieder aufgeschobene Rentenreform. Wird daraus eine echte Reform, ein Reförmchen oder nichts? Auch hier steckt die Angst vor der Straße, vor Protesten, tief und die Regierung braucht für die Umsetzung im Parlament Les Républicains, um die absolute Mehrheit zu erreichen.

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Man könnte den Krisenbogen von hier aus noch weiter spannen, im Grunde durch fast alle Bereiche der Politik. Ein wichtiges, fast panisch anmutendes Thema scheint die Energiepolitik. Frankreich hat Angst vor dem Winter aufgrund einer zurzeit aufgrund von Störfällen und Überprüfungen zu geringen (Kern-)Kraftwerkskapazität und vor Abschaltungen. Anregungen und Maßnahmen zur Einsparung von Energie beherrschen die Runde. Es freut daher die Nachbarn, dass Habeck nunmehr bereit scheint, während des Winters die Stabilität des französischen Netzes durch die beiden verbleibenden Kernkraftwerke in Süddeutschland absichern zu helfen. Es ist dies willkommene Solidarität.

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Noch ein Thema muss einfach erwähnt werden. Michaela Wiegel nannte es heute in der FAZ „Frankreichs Grüne in der Me-too-Falle“. Der Parteichef der Grünen, Julien Bayou, ist jüngst nach Gewaltvorwürfen zurückgetreten, die auf seine frühere Lebensgefährtin zurückgehen und ausgerechnet von seiner Konkurrentin bei den Grünen, Sandrine Rousseau, über die sozialen Medien in die Öffentlichkeit getragen wurden, ohne dass bisher juristische Ermittlungen eingeleitet worden sind. Bayou hatte vergeblich versucht, Gehör vor den Parteigremien der Grünen zur Untersuchung von Gewalt gegen Frauen zu finden. Die Debatte durchzieht alle Medien, was den Justizminister Eric Dupont-Moretti zu dem wütenden Kommentar veranlasste, dass ein solcher Fall zuerst in die Hände der Justiz und nicht ungefiltert in die sozialen Medien gehöre. Diese seien schließlich nicht der Generalstaatsanwalt.

Neuer französischer Botschafter in Berlin

Als Nachfolger von Anne-Marie Descôtes, die auf den herausgehobenen Posten der Secrétaire général des Quay d’Orsay wechselt, kam der bisherige Amtsinhaber François Delattre Ende September als Botschafter nach Berlin. Delattre ist Angehöriger der ENA-Promotion „Liberté-Egalité-Fraternité“ (1987/1989). Der Vorstand hat ihm zu der Berufung gratuliert.

„Berlin aime se laisser porter“

Joachim Bitterlich weist auch auf einen jüngst erschienen Artikel von Joseph de Weck über die französische Europapolitik unter Präsident Emmanuel Macron hin. Es geht dabei insbesondere um das Verhältnis zu Deutschland:
https://legrandcontinent.eu/fr/2022/07/07/la-methode-macron-en-allemagne/ .
Vergangenes Jahr hatten wir in Berlin bereits eine Veranstaltung zu einem Buch des Historikers über den Präsidenten (siehe „Forum“ vom 4. Oktober 2021).

De Weck unterscheidet drei Phasen beim Vorgehen des Präsidenten: Eine mit dem großen Entwurf der Sorbonne-Rede im September 2017 eingeleitete Charmeoffensive habe „im Land von Kant und Hegel“ keinerlei Reaktionen ausgelöst. Deutschland sei der „voluntaristische“ Ansatz des jungen Präsidenten, der auf den „deutsch-französischen Motor“ gesetzt habe, zutiefst fremd geblieben. Was folgte, war eine „temps de défi“ mit einem Obstruktionskurs in de Gaullescher Manier. Beispiele waren 2019 die Ablehnung von Beitrittsverhandlungen mit einigen Westbalkanstaaten und von „Nord Stream 2“ sowie die Feststellung des „Hirntodes“ der NATO. im Hinblick auf den Westbalkan betrieb. Ein Tiefpunkt war erreicht, als die damalige CDU-Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer die Aufgabe des Parlamentssitzes in Straßburg und im Gegenzug die Überlassung des französischen Sitzes im UN-Sicherheitsrat an die EU forderte.

Vor dem Hintergrund der Pandemie kam dann erfolgreich ein neuer, an konkreten Problemen orientierter Ansatz zum Tragen. Frankreich schmiedete breite Allianzen für seine Vorschläge, die Berlin unter Zugzwang setzten. Der Vortritt wurde dabei anderen Staaten überlassen. Beispiele waren der Wiederaufbaufonds, der Rechtsstaatsmechanismus und die Klimaziele. Praktiziert werde damit ein seinerzeit von Helmut Schmidt empfohlenes „leading from behind“. In dieser Situation geriet die Bundesrepublik „wie von selbst in die (…) geliebte Rolle des Vermittlers.“

Zu beachten sei, dass Deutschland im Hinblick auf Energie, Inflation und Stabilität der Eurozone zunehmend in die Rolle eines „Demandeurs“ geraten sei. Für die von Deutschland angestrebte EU-Erweiterung erinnert de Weck an die Konzepte der „Lamers-Schäuble-Papiers“ von 1994, die seinerzeit von Paris noch abgelehnt worden waren. Insgesamt beurteilt de Weck die Aussichten der neuen Strategie, auch im Hinblick auf die deutsche Regierungsmannschaft nach dem Ende der „Ära Merkel“, als erfolgversprechend.

„l’ena hors les murs“ est mort, vive la „Revue Servir“

Zwei neue Hefte der Zeitschrift der französischen ENA/INSP-Alumni liegen vor: Das letzte Heft unter dem alten Titel „l’ena hors les murs“ und die neu gestaltete Nummer 515 als erste der „Revue Servir“ (eine Kombination „Servir hors les murs“ hätte wohl zu sehr nach Freiluftgastronomie geklungen). In seinem Vorwort hebt Président Daniel Keller als Devise, die hinter dem neuen Namen stehe, hervor: „Servir sans s’asservir“. Beide Hefte sind schwergewichtigen Themen gewidmet, der staatlichen Souveränität und der Inneren Sicherheit. Die Lektüre lohnt dieses Mal ganz besonders.

Mit der „souveraineté économique“ wird eines der Lieblingsthemen von Staatspräsident Emmanuel Macron aufgegriffen. In den vielen Beiträgen wird – mit unterschiedlichen Akzenten, aber im Wesentlichen gleicher Stoßrichtung – ein seit der Corona-Krise und jetzt mit dem Russisch-Ukrainischen Krieg manifestes Thema aufgegriffen. Einigkeit besteht darin, dass es mit der Souveränität derzeit nicht weit her ist – auch in einem Staat, in dem Jean Bodin diesen Begriff 1576 geprägt hat. In den Beiträgen wird eine ganze Reihe von Aspekten des Themas durchdekliniert, sowohl allgemein als auch speziell für Währung, Energie, Rüstung, Forschung, Landwirtschaft, öffentliche Beschaffungen und Transportwesen.

Nicht nur in Nebensätzen finden sich dabei leider auch Vorbehalte gegenüber Deutschland. Ein Beispiel dafür ist Kritik an der „doctrine allemande“ des (auf Deutsch zitierten) „Wandel durch Handel“. In einem Atemzug werden als Staaten, die nicht einen (angeblichen) „angélisme communitaire et français“ kultivierten und wirtschaftliche Kraft mit politischem Willen verbänden, Deutschland, das das seit 150 Jahren tue, Großbritannien und die USA zusammen mit China und Russland aufgeführt. Kritisiert wird, dass der Koalitionsvertrag kein Wort über das deutsch-französisch-spanische künftige Luftkampfsystem verliere und Deutschland lieber auf amerikanische F35 setze. Der deutsche Ausstieg aus der Kernenergie verhindere angemessene Antworten auf die russische Bedrohung, ebenso wie die deutsche Fixierung auf wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit und der herrschende (Irr-)Glaube an ein dauerhaftes Ende der Geschichte. Der französischen Diplomatie wird vorgeworfen, die Aufnahme des Gebiets der DDR in die EU, die für die EU-Osterweiterung „ansteckend“ gewesen sei, ohne Volksabstimmung als „faits accomplis“ stillschweigend hingenommen zu haben, genauso wie den Atomausstieg, der zur „Absurdität“ geführt habe, dass die Reaktor von Fessenheim in einer Zeit größten Bedarfs abgeschaltet wurde. Auch die CO2-Abgabe auf Einfuhren werde durch die Bundesrepublik verhindert, die an seine Exporte in die Volksrepublik China denke. Positiv erwähnt wird lediglich die in Deutschland wie in Frankreich eingeführte Investitionskontrolle bei Firmenübernahmen.

Von solchen Seitenhieben abgesehen, enthalten die Beiträge viel Überlegenswertes. Aufgrund der Erfahrungen aus den Krisen der letzten Jahre werden drei grundlegende Elemente wirtschaftlicher Souveränität hervorgehoben: die Sicherstellung von Ernährung, Gesundheitsversorgung und Energie. Souveränität könne heutzutage aber nicht länger national, sondern als geteilt – in erster Linie mit der EU – verstanden werden. Unverkennbar ist indes ein pessimistischer Grundton und fast durchgängig die Kritik an der heutigen EU. Sie wolle sich nicht von einer „tutelle amercaine“ freimache und sei durch und durch von neoliberalem Denken geprägt. Besonders kritisiert wird die angeblich zu rigide Wettbewerbspolitik. Für die EU-Kommission seien Unabhängigkeit und Souveränität der Mitgliedstaaten „concepts obsolètes“.
Gefordert wird ein langfristig denkender und handelnder „état stratège“ mit einer ins 21. Jahrhundert projizierten „vision gaullienne“, die der Herausforderung durch autoritäre Staaten und der Macht der Technologieunternehmen gewachsen sei. In dieselbe Richtung geht es, wenn einer der Autoren von „Wirtschaftskrieg“ (gemeint sind vor allem die USA) spricht und einen „wirtschaftlichen Patriotismus“ mit einer „kühnen Industriepolitik wie zu Zeiten de Gaulles und Pompidous“ fordert.
In größeren Zusammenhängen denkt einer der Autoren, wenn er eine „Unterwerfung“ des Staates unter die Märkte, dem oft nurmehr die Rolle eines Notars zukomme, kritisiert. Der Staat verwandele sich zu einer „technostructure“ und einem „écosystème opaque“. Als Beispiele führt er die Abhängigkeit der Kreditaufnahme von privaten Ratingagenturen an, wo angelsächsisches Recht vorherrsche. Insgesamt gehorche staatliches Handeln mehr und mehr ökonomischen Gesetzen und der Staat und gerate in die Hände einer „gentry politico-finanzière“. Gefordert sei dem gegenüber ein „capitalisme tempéré et rhenan“ wie er vor den Achtzigerjahren geherrscht habe.

Auch das der inneren Sicherheit gewidmete Heft behandelt das Thema in aller Breite. Die Darstellung beginnt mit den Säulen der inneren Sicherheit in Frankreich, der police nationale, der Gendarmerie, den Geheimdiensten und dem „préfet, responsable de la sécurité et de l’ordre public“. Ein Beitrag will indes dezidiert über den althergebrachten „maintien de l’ordre à la française“ hinausführen. Weiter geht es um avancierte Fragen wie Cybersicherheit, die Bekämpfung von Cyberattacken und Perspektiven und Risiken des Metaverse. Der Sicherheitsbeauftragte der Olympischen Spiele 2024 behandelt die Sicherheit großer Sportereignisse. Mehrere Beiträge befassen sich mit neuen Herausforderungen der öffentlichen Sicherheit. Das Augenmerk wird beispielsweise auf eine Vernetzung der verschiedenen Ebenen bis hin zu städtischen Polizeikräften und privaten Sicherheitsdiensten gerichtet. Ein Beitrag über die „inclusion citoyenne“ erinnert an den „Bericht Peyrefitte“ von 1977 (!). Als kleine Revolution wird angesehen, wenn die Bürger als „Partner der Sicherheit“ betrachtet werden. Das Vertrauen zwischen Bürgern und Polizei (zitiert wird hier Niklas Luhmann) sei ein wichtiger Beitrag für die „Produktion von öffentlicher Ordnung“. Des erinnert an die heute nicht unkritisch gesehene, ursprünglich aber aus der Weimarer Republik stammende Formel von der „Polizei als Freund und Helfer“.

In einem längeren Beitrag berichtet unser Vorstandsmitglied Ralf Schnieders zusammen mit Françoise Klein über das am 10. Juni gegründete Netzwerk der nationalen Vereinigungen. Wir berichteten darüber in unserer Ausgabe vom 14. Juli.

Bemerkenswert ist die nach Promotionen geordnete Liste von 14 „Ehemaligen“, die bei den Wahlen am 12. und 19. Juni ein Mandat in der Assemblée Nationale erhalten haben. Ist vielleicht doch etwas dran am Wort von der „Enarchie“?

Kritisch kommentiert Patrick Gautrat (Promotion Robespierre 1970) die Reform des Auswärtigen Dienstes, die mit einem Dekret am 17. April 2022 umgesetzt wurde. Danach werden die traditionsreichen zwei diplomatischen corps aufgehoben. Ihre bisherigen Angehörigen können zwischen einem Verbleib oder dem Anschluss an das allgemeine interministerielle „corps des administrateurs de l’Etat“ wählen. Ansonsten müssen die künftigen Absolventen des „Institut national de service public“ zunächst sechs Jahre „sur le terrain“ dienen, bevor sie an eine Botschaft gelangen können. Allerdings dürfen sie dann hier nicht ihr ganzes Berufsleben verbringen. Der Autor zitiert Stimmen, die eine Entwicklung wie in den USA befürchten, wo die besten Botschafterposten an „amis du pouvoir“ fielen. Die Gewerkschaften haben bis auf die CFDT beim Conseil d’Etat Klagen gegen die Reform erhoben, die noch nicht entschieden sind. Am 2. Juni wurde zum zweiten Mal in der Geschichte des Quay d’Orsay gestreikt. Auf die neue Außenministerin Catherine Colonna kommen also schwierige Zeiten zu, wobei auch die bisherige Botschafterin in Berlin, Anne-Marie Descôtes, als Generalsekretärin im Feuer steht.

Duell im Herbst

Ganz entgegen der üblichen Staatspraxis, bei der diese Frage in allgemeiner Übereinstimmung geklärt wurde, zeichnet sich ein Duell um das Amt des künftigen Deutsch-Französischen Kulturbevollmächtigten ab. Als Kandidaten für die Nachfolge des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst, dessen Berliner Büro unser Mitglied Dominik Fanatico leitet, treten der altgediente baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann und die neugewählte saarländische Regierungschefin Anke Rehlinger gegeneinander an. Eine Entscheidung wird erst im „Kamingespräch“ der Ministerpräsidentenkonferenz vom 19. bis 21. Oktober erwartet.

30 ans Centre Marc Bloch

Das Centre/Zentrum Marc Bloch begeht bis zum März 2023 mit einer Gesprächsreihe und zahlreichen bekannten Teilnehmern wie beispielsweise Thomas Piketty und Bénédicte Savoy sein dreißigjähriges Jubiläum. Das Zentrum ist ein interdisziplinäres deutsch-französisches Forschungszentrum für Geistes- und Sozialwissenschaften in der Berliner Friedrichstraße. Vom französischen Außenministerium 1992 gegründet, wird es seit 2001 auch durch das BMBF mitfinanziert. Begonnen wurden die Jubiläumsfeierlichkeiten in der französischen Botschaft mit einer Podiumsdiskussion zum großen Thema „Europa: Herausforderungen in Vergangenheit und Gegenwart“. Näheres unter https://cmb.hu-berlin.de/.

„L‘état et moi“

Vor 150 Jahren endete der Deutsch-Französische Krieg, ohne dass in beiden Staaten – wahrscheinlich aus unterschiedlichen Gründen – 2021 groß davon Kenntnis genommen worden wäre. Der Jahrestag hätte Anlass sein können, den Veränderungen nachzugehen, die zur heutigen „Deutsch-Französischen Freundschaft“ geführt haben. Der Filmregisseur Max Linz hat das Thema nun nach Verzögerungen der Dreharbeiten durch Corona aufgegriffen. Der Film läuft, nachdem er bereits auf der Berlinale gezeigt wurde, seit September in Programmkinos.

Der Titel variiert – nicht ohne tiefere Bedeutung – die Quintessenz des Absolutismus, so wie sie Ludwig XIV. in den Mund gelegt wird. Allzu schwergewichtig muss er indes nicht verstanden werden, er geht nach eigenem Bekunden auf die Vorliebe des Regisseurs für ein Album der Hamburger Rockband „Blumfeld“ aus dem Jahre 1994 zurück. Ausgangspunkt ist eine Parallele: Am 28. Mai 1871 wurde der Aufstand der Pariser Commune niedergeschlagen und am 15. Mai 1871 in Deutschland das „Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich“ verkündet. Besonders interessiert den Film in einem kurzen historischen Rückblick der Hochverrats-Paragraph 81. Einwenden könnte man dagegen allenfalls das doch unterschiedliche Gewicht der Ereignisse, sofern man darin nicht philosophisch den gemeinsamen Ausdruck eines „Überwachens und Strafens“ sehen wollte. Anders als die bleischwere, aus französischer Sicht „typisch deutsche“ Berliner Schule, ist der Film trotz des ernsten Themas voller Humor. Er bietet Slapstick, der bis hin zum Klamauk geht. Angelehnt ist er nach Bekunden des Regisseurs, der unter anderem in Paris studiert hat, an die „Fantômas“-Stummfilme von 1913/14.

Der Film ist ein Kammerspiel in und um die Berliner Staatsoper herum, das mit lebenden Puppen und Doppelgängern über die Zeiten hinweg auf einer Erzählung der Romantik beruhen könnte: Die Wachsfigur eines 1871 erschossenen communard entwischt – plötzlich lebendig geworden – aus einer Gedenkausstellung zum 150. Jahrestag im „Humboldt-Forum“ und versucht, sich im heutigen Berlin zurecht zu finden. Ohne besonderen revolutionären Impetus, eher aus Ungeschicklichkeit, landet er, der zugleich Komponist einer vergessenen Oper über die Geschehnisse von 1871 ist, zwei Mal als vermeintlicher Verfassungsfeind und Anarchist im Gefängnis und vor Gericht. Hier warten eine täuschend ähnliche Vorsitzende, ein scharfer Oberstaatsanwalt und ein tolpatschiger Rechtsreferendar auf ihn. Für einen Gerichtsfilm herrscht indes trotz eindrucksvoller Plädoyers der Verteidigerin zu viel Augenzwinkern, zumal Richterin und Angeklagte von derselben Sophie Rois (Volksbühne, Deutsches Theater) gespielt werden. Auch die Systemkritik am schon in die Jahre gekommenen Strafgesetzbuch ist nicht allzu tiefgreifend und die Staatsgewalt, verkörpert durch Polizeiführer und Oberstaatanwalt, trotz großen Auftritts eher harmlos. Das Ganze endet als Verwechslungskomödie, die die Richterin irrtümlich ins Gefängnis führt, den Angeklagten dagegen an der Seite einer schönen Cellistin in die Freiheit. Der Rechtsreferendar, der das Nachsehen, aber überraschend gute Examensergebnisse hat, entschließt sich für die Laufbahn eines Staatsanwalts. Da wären wir also wieder beim „état“.

Der Film ist nicht nur etwas für Freunde der Revolution und für Juristen (soweit dies kein Widerspruch ist), sondern auch für Liebhaber der Hauptstadt und der Oper, wo sogar französisch gesprochen wird. Nett ist ein für den Film komponiertes Liedchen „Rot ist eine schöne Farbe“, das Sophie Rois aufs Anmutigste singt. Für Kenner wäre aber natürlich das Lied der Kommunarden von der „Kirschenzeit“ obligatoire gewesen: https://www.youtube.com/watch?v=-9aQNv5nraA .