Jean-Jacques Rousseau

„C’est la raison, qui fait l’homme,
c’est le sentiment, qui le conduit.“

Jean-Jacques Rousseau (1761)

Berlin, 4. April 2024

Liebe Mitglieder,
schon wieder sind zwei Monate vergangen und es ist Zeit für eine neue Ausgabe unseres bimestriel. Viel Neues zu den deutsch-französischen Beziehungen gibt es indes leider nicht zu berichten. Der Wellenschlag der gegenseitigen Vorhaltungen, denen regelmäßig die Bekräftigung besten Einvernehmens folgt, ist sogar noch etwas höher geworden. Dazu unten der Beitrag von Pascal Thibaut. Betrachtet man die auf Seite 5 zitierte Analyse von Jacob Ross, so hätten wir indes jeden Anlass, die verbleibende Amtszeit der bisherigen Staatspräsidenten zu nutzen.

Erfreulicher sind dem gegenüber die Alumni-Aktivitäten auf bilateraler und europäischer Ebene, wo sich unserer Gesellschaft nun mehr und mehr ein größerer Rahmen öffnet. Wir sollten es daher zumindest so halten, wie Voltaire meint: „Il faut cultiver son jardin.“ Am Ende dieser Ausgabe haben wir ein Originalschreiben des Philosophen abgedruckt.

Table de matières

Ein französischer Blick2
Das Auswahlverfahren 20242
Deutsch-französische Alumni-Initiative3
Bilanz nach fünf Jahren3
Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung4
Unverhofftes Wiedersehen5
Noch ein Jubiläum5
Deutsch-französische Fortbildung für den öffentlichen Dienst5
„Rencontres européennes“ vom 20. bis 22. Juni6
Aus dem Mitgliederkreis6
Nachruf7
Die neue „Revue“7
Deutsch-französische Agenda8
Wieder gelesen: Julien Gracqs „Ufer der Syrten“9
Voltaire und der Elsässer Weinbau10


Ein französischer Blick

In seinem „Lettre d’Allemagne“ (https://lettredallemagne.kessel.media/) vom 8. März befasst sich der Korrespondent von RFI, Pascal Thibaut, mit den aktuellen deutsch-französischen Irritationen. Mit seiner freundlichen Genehmigung der folgende Auszug.

„Der Krieg in der Ukraine hat die seit Langem bestehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutschland und Frankreich deutlich gemacht, die durch die Dringlichkeit der zu treffenden Entscheidungen noch verstärkt wurden. Dies zeigt sich in der Energiepolitik, in Haushalts- und Finanzfragen oder auch in der Verteidigungspolitik.

Die letzten zehn Tage waren wieder ein gutes Beispiel für diese Meinungsverschiedenheiten, diesmal über die Unterstützung für Kiew und die Rolle, die Berlin und Paris spielen sollen. Seit mehreren Wochen hat Bundeskanzler Scholz immer wieder betont, dass er sich eine stärkere Unterstützung Kiews durch seine europäischen Verbündeten wünscht, wobei er immer wieder darauf hinweist, dass Berlin nach den USA der größte Geldgeber ist. Diese -Äußerungen als „Klassenbester“ haben in Paris für Irritationen gesorgt, wo man der regelmäßig aktualisierte Rangliste des Kieler IfW-Instituts https://www.ifw-kiel.de/topics/war-against-ukraine/ukraine-support-tracker/ über die westlichen Militärlieferungen an die Ukraine misstraut. Frankreich entgegnet, dass diese Daten unterbewertet und dass die Qualität der gelieferten Waffen und ihre Wirksamkeit wichtiger seien als absolute Zahlen. Moral: Berlin macht vielleicht mehr, aber unser Material stellt eine entscheidendere Hilfe für die Ukraine dar.

Offensichtlich will Paris sich nun als Speerspitze einer entschieden solidarischen Politik mit der Ukraine gegen Russland profilieren (und vergessen machen, dass Emmanuel Macron 2022 der Meinung war, man dürfe Moskau nicht demütigen). Die Äußerungen des französischen Präsidenten über eine mögliche Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine führten in Deutschland zu einem Aufschrei und nährten eine giftige Kritik an Paris. Olaf Scholz reagierte sofort, ohne diplomatische Handschuhe anzulegen und lehnte eine solche Möglichkeit ab, die für ihn eine gefährliche Eskalation bedeuten würde. Der Bundeskanzler sendete am nächsten Tag ein Podcast-Video (das normalerweise am Wochenende ausgestrahlt wird), um die Sache zuzuspitzen. Diese Positionierung ist auch mit innenpolitischen Gründen zu erklären. Olaf Scholz stellt sich damit als Führer mit Augenmaß dar, der die Konsequenzen seiner Entscheidungen sorgfältig abwägt. Der Kanzler weiß, dass die Deutschen keine Kriegstreiber sind. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage ergab, dass eine Mehrheit der Deutschen ihre Birkenstocks und ihr gemütliches Sofa nicht aufgeben und zu den Waffen greifen würde, wenn ihr Land angegriffen wird. In Paris soll ein Berater des Elysee-Palastes gesagt haben: ‚Quand Scholz entend Poutine éternuer, il court se réfugier dans son bunker.‚”

Das Auswahlverfahren 2024

An dem abschließenden oral des diesjahrigen Auswahlverfahrens am 22. März mit diesmal sechs Kanditaten und Kandidatinnen in der französischen Botschaft haben von uns Wolfgang Drautz sowie Gunnar Graef teilgenommen. Nachdem es zunächst geheißen hatte, der DAAD stelle nurmehr drei Stipendien zur Verfügung, ist es im Kontakt mit der neuen Leiterin der DAAD-Außenstelle in Paris Ursula Egyptien gelungen, vier vielversprechende Kandidaten zu berücksichtigen.

Deutsch-französische Alumni-Initiative

Auf unsere gemeinsame Initiative mit dem französischen Ehemaligenverein „Servir“ hat der Gesandte der Deutschen Botschaft in Frankreich, unser Mitglied Martin Schäfer, am 18. März freundlicherweise zu einem Arbeitstreffen in seine Wohnung im noblen 16. Arrondissement eingeladen. Es ging darum, Ideen zur Stärkung des deutsch-französischen Elementes am reformierten INSP zu entwickeln, darum, mehr jungen deutschen Beamten und Beamtinnen den Weg ans INSP zu eröffnen und gleichzeitig die Beziehungen zwischen den französischen und deutschen Ehemaligen zu intensivieren.

An diesem Auftakttreffen nahm ein kleiner Kreis von Experten, Verantwortlichen aus der französischen Verwaltung, insbesondere aus dem Außenministerium und dem Ministère de la Fonction publique sowie des INSP und Vertreter beider Alumni-Vereine, teil. Aus Berlin war dazu eigens unser stellvertretender Vorsitzender Ralf Schnieders angereist. Ergebnis waren Vorschläge für Maßnahmen der Kommunikation, zum Ausbildungsangebot und zur Verstärkung der Alumniarbeit. Es ist nun geplant, das Format mit auch stärkerer Beteiligung der deutschen Ehemaligen fortzusetzen. Ein erstes Resultat der Runde ist die Nachricht der Direktorin des INSP, Mayonne Le Brignonen, die sich im Hinblick auf mehr deutsche Schüler am INSP an den Minister für den öffentlichen Dienst, Stanislas Guerini, gewandt hat:
„Dans le prolongement de notre réunion lundi, je vous informe que S Guérini va prochainement rencontrer son homologue allemand. Nous avons sensibilisé le cabinet à notre problématique et indiqué que la position du DAAD (désolée si l’orthographe est défectueuse) constitue un des nœuds de nos difficultés. Nous espérons qu’il pourra échanger avec son homologue sur cette question.“

Bilanz nach fünf Jahren

Eine „Zwischenbilanz“ des mit dem 2019 unterzeichneten „Aachener Vertrag“ Erreichten hat eine Gruppe von Frankreich-Experten, unter ihnen unser Mitglied Jacob Ross (Berlin/Paris), gezogen. Das Papier wurde in mehreren Treffen und über mehr als ein Jahr unter Führung der „Stiftung Genshagen“ erarbeitet. Die Gruppe geht aus der ehemaligen Vernet-Gruppe hervor, die nach dem verstorbenen Le Monde-Journalisten Daniel Vernet benannt war und sich in unregelmäßigen Abständen traf, um über die deutsch-französischen Beziehungen zu diskutieren.

Das Ergebnis bestätigt unsere kritsche Einschätzung des Vertragswerks, wenn es zusammenfassend heißt: „Die Bewertung des Vertrags zeigt, dass sein Potenzial bisher nur bedingt ausgeschöpft wurde. So stehen mehreren Errungenschaften zahlreiche Lücken bei der Umsetzung sowie einige Leerstellen im Vertragstext gegenüber.“

Apropos „Leerstellen“: Unsere Gesellschaft hatte den Verantwortlichen im Vorfeld des Vertragsschlusses ein Memorandum zugeleitet, in dem wir kraftvolle politische Akzente sowie ganz konkrete Maßnahmen im Interesse der Zivilgesellschaft, wie zum Beispiel einen Brückenschlag über den Rhein oder spektakuläre Kulturforen in den beiden Hauptstädten mit publikumswirksamen Aktionen, vorgeschlagen haben. Leider wurde davon bis auf den „Bürgerfonds“ kaum etwas aufgegriffen.
https://dgap.org/de/forschung/publikationen/5-jahre-aachener-vertrag-eine-zwischenbilanz

Deutsch-Französische Parlamentarische Versammlung

Ebenfalls mit einer „Bestandsaufnahme der deutsch-französischen Zusammenarbeit fünf Jahre nach dem Vertrag von Aachen und dem Deutsch-Französischen Parlamentsabkommen“ befasste sich ein „Symposium“ der Deutsch-Französischen Parlamentarischen Versammlung (DFPV) am 18. März in Paris, zu dem die Ko-Vorsitzenden Brigitte Klinkert und Nils Schmid in die Räume der Assemblée nationale eingeladen hatten. Für unsere Gesellschaft verfolgten Ralf Schnieders und Jacob Ross das Geschehen.

Das Ergebnis des Treffens entsprach im Wesentlichen dem der Studiengruppe: „Auch wenn noch nicht alle Vertragsinhalte umgesetzt seien, sei doch vieles auf den Weg gebracht worden.“

Im Nachgang zur Versammlung am 18. März hatten Vertreter unserer Gesellschaft und von „Servir“ am 26. März einen einstündigen Videotermin mit Brigitte Klinkert, elsässische Abgeordnete und Quästorin der Nationalversammlung sowie französische Ko-Vorsitzende der DFPV. Die zweisprachige Abgeordnete, die zusammen mit ihrer deutschen Assistentin teilnahm, zeigte sich sehr offen für unser Anliegen, die deutsch-französische Komponente im Rahmen des INSP durch eine angemessene Anzahl deutscher Schüler und deutsch-französische Ausbildungsinhalte sowie über das INSP hinaus in den Ministerialverwaltungen zu stärken. Erste konkrete Maßnahmen könnten eine entsprechende Resolution der DFPV sein und ein Besuch der beiden Vorsitzenden der DFPV am INSP. Ferner sollte eine Bestandsaufnahme der deutsch-französischen Verwaltungskooperationen und Institutionen vorgenommen werden. Es wurde vereinbart, den Austausch regelmäßig fortzusetzen.

Unverhofftes Wiedersehen

Unser Mitglied Jacob Ross weist auf die Plattform DokDoc für den deutsch-französischen Austausch hin, die, herausgegeben beim Gustav-Stresemann-Institut in Bonn, unter anderem vom Auswärtigen Amt finanziert wird. Sie ist die digitale Fortsetzung der traditionsreichen, von Jean du Riveau und Joseph Rovan begründeten Zeitschrift Dokumente/Documents, die von 1945 bis 2018 auf Deutsch über Frankreich und auf Französisch über Deutschland berichtet hat. Schon ein kurzer Blick auf die Webseite zeigt eine Fülle hoch interessanter Themen, die für unsere Mitglieder aufschlussreich sein können. So beispielsweise eine luzide Analyse von Jacob Ross zur aktuellen politischen Situation in Frankreich vor der Europawahl angesichts der Herausforderung des Front national: https://dokdoc.eu/politik/22759/die-nervositaet-waechst/. Erhellend auch die Reihe „Welche Rolle für Deutschland und Frankreich in Europa“, wo die finnische Sicherheitsexpertin Minna Ålander die Situation prägnant so zusammenfasst:
„Bei Deutschland fehlt es noch an Risikobereitschaft. Frankreich wiederum muss noch lernen, seine Partner besser mitzunehmen und sie nicht mehr mit unkoordinierten Aussagen vor den Kopf zu stoßen.“

Die Lektüre kann nur empfohlen werden: https://dokdoc.eu/

Noch ein Jubiläum

Eine aufmerksame Leserin unseres „Forum“ weist darauf hin, dass vor 220 Jahren, am 21. März 1804, der Code civil verkündet wurde. Mit seinen 2281 Artikeln stellt dieses monumentale Werk bis heute die Grundlage des französischen Zivilrechts dar. In Deutschland brauchte es noch fast einhundert Jahre, bis nach einem erbitterten Streit über den „Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung“ Vergleichbares erarbeitet wurde.

Diese Gesetzgebung zeigt dreierlei: Einerseits die Stärke Frankreichs, wenn es um große Vorhaben geht, seine bedeutende juristische Tradition, im übrigen auch des öffentlichen Rechts, die trotz einzelner Stimmen in der deutschen Rechtswissenschaft kaum wahrgenommen wird, und dann noch – auf den ersten Blick in einem Land der Revolutionen verwunderlich – einen besonderen Konservativismus, der auch nach zweihundert Jahren nichts ändert, wenn es nicht unbedingt nötig ist.

Deutsch-französische Fortbildung für den öffentlichen Dienst

Am 12. März fand in Berlin ein Treffen mit dem Präsidenten der Bundesakademie für öffentliche Verwaltung, Arne Schönbohm, statt. Die Bundesakademie organisiert beispielsweise das deutsch-französische MEGA-Programm mit vier je zweiwöchigen Präsenzmodulen an der Sorbonne in Paris, der Universität Potsdam, dem INSP in Straßburg und der Humboldt Universität zu Berlin sowie einem neunwöchigen Auslandspraktikum in Verwaltungen der beiden Partnerländer oder EU-Institutionen. Nach erfolgreichem Abschluss kann ein „Master of European Governance and Administration“ erworben werden.

Ins Auge gefasst wurde eine gemeinsame Veranstaltung mit dem Präsidenten und der Direktorin des INSP, bei der es um die Intensivierung der deutsch-französischen Zusammenarbeit in der Fortbildung für den öffentlichen Dienst gehen soll.

„Rencontres européennes“ vom 20. bis 22. Juni

Nach dem Auftakt im vergagenen Jahr in Paris, finden die Rencontres européennes des INSP in diesem Jahr vom 20. bis 22. Juni in der Ständigen Vertretung Frankreichs in Brüssel zur Frage „Union européenne – transitions, modernisation, rayonnement“ statt. Geplant sind drei hochkarätige tables rondes unter Beteiligung auch unseres Mitglieds Bodo Lehmann, des Leiters der baden-württembergischen Vertretung in Berlin, zu den Themen

  • Le contexte: l’Union européenne entre guerres et ruptures
  • Que faire – vers un agenda de souveraineté?
  • Comment faire – l’intendance suivra?

Eine Einladung geht rechtzeitig an unserer Mitglieder.

Aus dem Mitgliederkreis

Unser Vorstandsmitglied Ralf Schnieders (Berlin) hat in der renommierten „Juristenzeitung“ (3/2024, S. 90-93) einen Artikel über „Die Strukturreform des hohen Staatsbeamtentums in Frankreich“ veröffentlicht. Für uns vielleicht beruhigend ist seine Schlussfolgerung, nach der die „Neugründung des INSP in mancherlei Hinsicht eher eine Umbenennung der früheren ENA denn als Gründung einer neuen Einrichtung“ zu sehen sei. Die Aufgabe des Namens aus politischen Gründen sei unter betriebswirtschaftlichen und markenrechtlichen Gesichtpunkten indes als „äußerst negativ“ zu beurteilen.

Unser Mitglied Traudel Boxheimer (Mainz) berichtet: „Die Promotion Michel de Montaigne (1986/88) trifft sich vom 19. bis 26. April auf Einladung des niederländischen Kollegen Foppe de Haan zur Tulpenblüte in den Niederlanden. Neben den Tulpem stehen das Licht und das Meer ebenso wie ein Empfang durch den Botschafter Frankreichs und ein Besuch des Internationalen Gerichtshofs auf dem Programm.“


Nachruf

In der vergangenen Ausgabe hatten wir bereits kurz vom Tod unseres langjährigen Mitglieds Dirk Schroeder (Promotion Solidarité 1983) berichtet. Seine Tochter Elke Schroeder hat uns nun diesen Nachruf geschickt. Er zeigt, dass auch für Deutschland herausragende Köpfe aus der ENA hervorgegangen sind.

„Prof. Dr. Dirk Schroeder studierte von 1981 bis 1982 an der Ecole nationale d’administration in Paris. 1983 promovierte er zum Dr. iur. an der Universität zu Köln. Seine erste Anwaltsstation war die Kölner Anwaltskanzlei Oppenhoff & Rädler, in der er zum bis dato jüngsten Partner ernannt wurde. 2003 wechselte er zur amerikanischen multinationalen Kanzlei Cleary Gottlieb Steen & Hamilton LLP und eröffnete für diese ein Kölner Büro. Fachlich war er vornehmlich im EU- und Kartellrecht einschließlich deutscher und EU-Fusionskontrolle, Kartelle und Monopole tätig. Er vertrat Mandanten vor der Europäischen Kommission, dem Bundeskartellamt, den europäischen und deutschen Gerichten. Er hat zahlreiche wissenschaftliche Publikationen veröffentlicht und eine Professur an der Universität zu Köln inne gehabt. Zudem war er seit 2003 als Mitherausgeber des Frankfurter Kommentars zum Kartellrecht und von 2006 bis 2022 als Mitherausgeber der Zeitschrift Wirtschaft und Wettbewerb tätig. Die Zeit an der ENA hat ihm sehr viel bedeutet und er ist mit Vielen bis zu seinem Tod in Kontakt geblieben.“

Die neue „Revue“

Die aktuelle Ausgabe der von „Servir“ herausgegebenen Revue ist den temps forts des vergangenen Jahres gewidmet. Trotz aller beunruhigenden Entwicklungen sieht die Präsidentin Isabelle Saurat auch Positives: So habe sich die Abholzung des Amazonas-Waldes um mehr als 50% vermindert und 61% aller Französen blickten letztlich optimistisch in die Zukunft, bei den unter 35jährigen seien es sogar 68%. Spielen die Sorgen der Aktivisten von „Fridays for future“ tatsächlich in Frankreich kaum eine Rolle?

Die Revue zeichnet – wie immer mit hochkarätigen Autoren – unter anderem ein Panorama der zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen des Jahres 2023, dem Krieg in der Ukraine, die Besetzung von Bergkarabach durch Aserbaidschan, die Auseinandersetzung Israels mit der Hamas, wo sich ein „schisme“ zwischen dem Westen und dem „Globalen Süden akzentuiere. Im Ukrainekrieg sei der Zusammenbruch einer der beiden Kriegsparteien möglich, aber doch unwahrscheinlich. Sollte es bei der westlichen Unterstützung im bisherigen Umfange bleiben, wird als wahrscheinlichstes Szenario „un front gelé, avec un léger avantage pour la Russie“ angenommen. Die Geschichte zeige, dass der „Kleinere“ von zwei Kriegsgegnern sich trotz militärtechnischer Überlegenheit gegen den „Größeren“ nicht durchsetzen könne.

Im Hinblick auf den Nahostkonflikt hält der Journalist Stéphane Amar anstelle der allseits propagierten Zweistaatenlösung eine Vereinigung Israels mit den Palästinensergebieten in Form eine „conféderation israélo-palestinienne“ für die realistischte Alternative.

Die Situation in Südamerika und Probleme in Ostasien werden in Beiträgen des brasilianischen Botschafters Ricard Neiva Tavares – übrigens ein „Ehemaliger“ – und seines japanischen Kollegen ausgeleuchtet.

Innenpolitsch zeichneten Umfragen das Bild eines Frankreichs „inquiète, en colère, divisée et en proie à la violence„. Mehrheitlich dächten die Menschen, dass es ihre Kindern morgen schlechter hätten und 80% der Befragetn seien der Ansicht, Frankreich „gehe in die falsche Rictung“. Ein gutes Drittel der Franzosen – mit deutlichen Unterschieden zwischen den Anhängern der verschiedenen Parteien – bevorzugten andere Staatsformen als die Demokratie. Nur 40% der Französen glaubten, der Islam sei „compatible avec les valeurs de la societé francaise„, während 80% der Muslime der Ansicht seien, dass die berühmte französische Laizität für sie diskriminierend sei.

Im Gegensatz zu alarmistischen Befürchtungen zu Beginn des vergangenen Jahres habe die Weltwirtschaft immerhin gerade noch eine „weiche Landung“ hingelegt. Europapolitisch sei das Jahr durch Widersprüchlichkeiten gekennzeichnet gewesen. Einzelne Maßnahmen der Krisenbekämpfung hätten keine dauerhaften Auswirkungen auf das europäische Modell gehabt. Beispiel seien die nur minimalen Änderungen an den Budgetregeln, die auf ein „verlorenes Jahrzehnt“ zurückgingen. Ausführlich gewürdigt wird die auf den verstorbenen ehemaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors zurückgehende europäische Ausrichtung der ENA.

Zu bedauern ist, dass neben der Besprechung neuer Musikalben zum ersten Mal nicht die immer gehaltvolle „Boîte à livres“ das Feuilleton der Revue abschließt. Eine Rückfrage bei unserer Pariser Ansprechpartnerin Marie-Christine Armaignac hat ergeben, dass der langjährige Schriftleiter der Rubrik und frühere Generalsekretär der ENA Robert Chelle sich bester Gesundheit erfreut und seinem „Baby“ weiter verbunden bleibt, indes aus Einsparungsgründen seine bisherige Sekretariatsunterstützung weggefallen ist. Es werden nun Freiwillige für diese Aufgabe gesucht.

Deutsch-französische Agenda

Vom 12. bis 22. März fanden in Stuttgart die 21. „Französischen Wochen“ statt. Deren Logo zeigt auf originelle Weise die enge Verbindung zwischen Stuttgarter Fernseh- und Pariser Eiffelturm, wobei in der Realität der Fernsehturm mit seinen 217 natürlich in keiner Weise gegen die 300 Meter des Eiffelturms ankommt.

Am 22. April, 19 Uhr organisiert das Stuttgarter Institut Francais in Zusammenarbeit u. a. mit der Reinhold-Maier-Stiftung eine Veranstaltung, bei der Generalkonsul Gael de Maisonneuve und unser Mitglied Jacob Ross über den Stand der deutsch-französischen Wirtschaftsbeziehungen diskutieren werden. Anmeldungen sind möglich unter service@freiheit.org .

Der Deutsch-Französische Wirtschaftskreis, dessen Ehrenpräsident unser Vorstandsmitglied Joachim Bitterlich ist, lädt für 16. Mai, 18.30 Uhr zu einer Diskussion „Weimarer Dreieck – eine neue Chance für den europäischen Integrationsprozess?“ mit den Bundestagsabgeordneten Andreas Jung und Sandra Weeser in die Berliner Vertretung Thüringens ein. Anmeldungen sind möglich unter kontakt@dfwk.eu .

Am 4. Juni, 18 Uhr wird der Historiker Chris Millington von der Manchester Metropolitan University im Rahmen des Forschungskolloquiums zur Europäischen Geschichte am Historischen Seminar und in Kooperation mit dem Frankreich-Zentrum der Universität Freiburg über „The Invention of Terrorism in Early Twentieth-Century France“ sprechen. Der Vortrag findet (aus unserer Sicht bedauerlicherweise) in englischer Sprache statt. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung nicht erforderlich. Näheres hier: https://www.fz.uni-freiburg.de/de/veranstaltungen/chris-millington-the-invention-of-terrorism-in-early-twentieth-century-france

Wieder gelesen: Julien Gracqs „Ufer der Syrten“

Die Veröffentlichung der als „Lebensknoten“ beschriebenen Notizen von Julien Gracq (1910 -2007) hat soeben als „Psychogeographie seiner Heimat“ für Aufsehen gesorgt: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/rezension-des-buchs-lebensknoten-von-julien-gracq-19370001.html.


Von unveränderter Aktualität ist indes sein Meisterwerk, „Le rivage des Syrtes„, das Le Monde zu den „100 Büchern des 20. Jahrhunderts “ zählt. 1951 sollte er dafür den Prix Goncourt erhalten sollte, was Gracq aber abgelehnt hat. Obwohl bereits 1951 in der Librairie José Corti erschienen, wird Julien Gracqs opus magnum bis heute aufgelegt. Die deutsche Übersetzung mit dem Umschlag von Heinz Edelmann liegt in der 4. Auflage vor. Zu tun hat dies sicher mit der Zeitlosigkeit, einer fast mythischen Qualität des Werks, das in manchem an Ernst Jüngers „Mamorklippen“ oder Dino Buzzattis „Tartarenwüste“ erinnert.

Das Werk spielt in der imaginären Republik Orsenna, deren große Zeiten indes schon länger vorbei sind und die sich allen trotz Wohllebens in einem „Zustand des Verfalls und der Entnervung“ eingerichtet hat. Man lebt in einem seit langen Jahren „schlafenden Krieg“ mit dem Nachbarn Farghestan, der gegenüber von Orsenna auf der anderen Seite des „Syrtenmeeres“ liegt. Wie von allen Regierungen von Kaufmannsstaaten werde „eifersüchtiges Misstrauen gegenüber den Befehlshabern“ gepflegt und der junge Adelige Aldo, Hauptfigur und Erzähler des Romans, wird als „Beobachter“ an den fernen Außenposten der Republik, die verfallene „Admiralität“ am Syrtenmmeer, geschickt, in deren Bann er gerät. Im nahe gelegenen Maremma, beliebter Urlaubsort der besseren Gesellschaft, steigt inzwischen mit einem „seltsamen Absinken der Moralität“ die „Fieberkurve“, Gerüchte über eine Auseinandersetzung mit Farghestan laufen um und schüren die Angst. Die Festung wird notdürftig ausgebessert und nach einer von Aldo befohlenen, eigenmächtigen Patrouillenfahrt über die Seegrenze hinaus vor die Küste von Farghestan, wo er beschossen wird, spitzt sich die Lage zu. Aldo wird in die Hauptstadt zurückgerufen, wo es inzwischen ebenfalls schon zu Unruhen kommt. Dort wird ihm eröffnet, dass es zum Krieg kommen wird, in dem Orsenna aber untergehen wird.

Julien Gracq: Die Ufer der Syrten. Stuttgart 2022 (Klett-Cotta, 358 Seiten kartoniert, 19 Euro)

Voltaire und der Elsässer Weinbau

Vom 27. März bis 5. Juli ist im Hauptstaatsarchiv Stuttgart anlässlich des Siebenhundertjährigen Jubiläums die Ausstellung „Württemberg und das Elsass“ zu sehen. Vom 13. Juli in 13. Oktober wird die Ausstellung dann im bekannten Weinort Riquewihr im dortigen Schloss der Herzöge von Württemberg gezeigt. Riquewihr, damals noch Reichenweier, war von 1324 bis zum Frieden von Campo Formio (1796) württembergisch. Ebenfalls zu Württemberg gehörte über 400 Jahre die nahe gelegene Stadt Monbéliard. Diese enge Vebindung erklärt vielleicht, dass sich in dieser Stadt sowie im benachbarten Sochaux das größte Werk des französischen Fahrzeugherstellers Peugeot befindet. Zur Ausstellung erscheint ein zweisprachiger Katalog. Nähere Informationen unter www.landesarchiv-bw.de .

Die Beziehungen sind bis heute lebendig: So wurde bereits 1950 die erste deutsch-französische Städtepartnerschaft zwischen Montbéliard und der ehemaligen württembergischen Residenzstadt Ludwigsburg abgeschlossen und Riquewihr pflegt eine Partnerschaft mit der ehemaligen Reichsstadt Weil der Stadt, dem Geburtsort des Astronomen Johannes Keppler.

Bei der Ausstellungseröffnung, an der auch der Nachfahre des Grafen Ulrich, der vor 700 Jahren Reichenweier erworben hat, Herzog Wilhelm von Württemberg, teilnahm, sprach unser camarade, Generalkonsul Gael de Maisonneuve. Unser Vorstand drückte ihm bei dieser Gelegenheit den Dank für die enge Zusammenarbeit aus.

Interessant sind in der Ausstellung neben vielen anderen Dokumenten Originalschreiben von Voltaire an den württembergischen Herzog Carl Eugen, in denen es in gestochener Handschrift um eine Leibrente des Philosophen aus Einkünften der württembergischen Weinproduktion im Elsass und der Grafschaft Mömpelgard geht, die der Herzog wegen seiner Schulden an Voltaire überschrieben hatte. Der Leiter des Hauptstaatsarchivs, Prof. Dr. Peter Rückert, hat uns freundlicherweise einen Brief des engagierten Aufklärers, der aber offenkundig mit Geld umzugehen wusste, zur Verfügung gestellt.