Où est le savoir afin de prévoir, et prévoir afin de pourvoir »,
règle de toute bonne diplomatie.
L’inertie n’aurait-elle pas confiné à la légèreté?
Julien Gracq
Berlin, 14. Juli 2022
Liebe Mitglieder,
Großes ist geschehen: Die AAEENA hat sich ihres zungenbrecherischen Akronyms entledigt und nach einer im September vorigen Jahres begonnenen Diskussion mit Hilfe der Agentur Havas einen neuen Namen gefunden: „SERVIR“, wo das „E“ für die alte ENA, das „I“ für das neue INSP stehen soll. Neu gefasst wurden auch Satzung und Geschäftsordnung sowie eine „Werteordnung“ geschaffen. Bestätigt wurden die Neuerungen in einer Assemblée générale am 29. Juni. Ziel ist insgesamt „une association plus jeune, plus féminisée et plus ouverte sur le monde d’aujourd’hui, y compris à l’international“. Die unten abgedruckten Erläuterungen mit dem fast kabbalistisch anmutenden Dreieck, das die Änderungen symbolisieren soll, haben wir dazu erhalten. Für uns stellt sich die Frage, ob wir hier – wie auch immer – nachziehen wollen. Meinungsäußerungen sind willkommen!
Auch sonst hat sich in Frankreich etwas geändert: Obwohl in der Präsidentenwahl bestätigt, hat Emmanuel Macron im Parlament seine absolute Mehrheit verloren. Gespannt sein können wir, wie nun die ungewohnte Notwendigkeit, Kompromisse zu finden und Koalitionen zu schmieden, angegangen wird.
Dieses „Forum“ erscheint zum „Quatorze Juillet“ – unsere herzlichsten Glückwünsche den französischen Freunden!
Für heute herzliche Grüße und alle guten Wünsche –
pour aujourd’hui, meilleures salutations et tous les bons voeux
Der Vorstand
Das Europäische Netzwerk steht
Vom 10. bis 12. Juni trafen sich zum ersten Mal an die 60 Vertreter und Vertreterinnen europäischer ENA-Alumnivereinigungen, darunter auch zahlreiche unserer Mitglieder. Ein anspruchsvolles Programm führte die Teilnehmer mit den höchsten französischen Vertretern der in Luxemburg ansässigen europäischen Institutionen, des Europäischen Gerichtshofes, des Rechnungshofes und der Europäischen Investitionsbank EIB), sowie dem Generaldirektor des Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), Klaus Regling, zusammen. Organisiert wurde das Programm von Francoise Klein von der dortigen ENA-Vereinigung mit tatkräftiger Unterstützung unseres Mitglieds Eberhard Uhlmann und von unserem Vorstandsmitglied Ralf Schnieders. Es war somit eine klassische deutsch-französische Initiative. Im Rahmen eines von der französischen Botschafterin Claire Lignières-Counathe gegebenen Empfangs wurden eine Déclaration unterzeichnet, mit der sich nach dem Vorbild von „ENA Afrique“ ein europaweites Netzwerk von ENA/INSP-Ehemaligenvereinigungen konstituierte („ENA/INSP Europe“), und die Ziele für die künftige Zusammenarbeit festlegt (siehe unten). Dass diesem Ereignis auch von französischer Seite erhebliche Bedeutung zugemessen wird, zeigten Grußbotschaften des Vorsitzenden der (bisherigen) AAEENA Daniel Keller und des französischen Beigeordneten Europaministers Clément Beaune sowie eine Meldung im Bulletin quotidien vom 14. Juni. Von uns sprachen Dominik Fanatico vom Büro des Deutsch-Französischen Kulturbevollmächtigten und Jan Benedyczuk, Staatssekretär im Kultusministerium des benachbarten Saarlands.
Déclaration des associations européennes d’anciens élèves de l’ENA
Luxembourg, le 10 juin 2022
Nous, anciens élèves et représentants des associations européennes d’anciens élèves de l’Ecole nationale d’administration (ENA), assemblés aujourd’hui, en présence du représentant de l’Institut National de Service Public (INSP) déclarons solennellement vouloir :
contribuer à améliorer et à renforcer la connaissance et la coopération entre les systèmes administratifs et politiques en France et dans nos pays respectifs, afin d’entretenir des relations toujours plus étroites dans tous les domaines ; promouvoir les parcours professionnels européens au sein de nos administrations, en valorisant, notamment, les programmes d’échanges de hauts fonctionnaires, y compris avec les institutions européennes ;
participer au renforcement de la dimension internationale et européenne de l’INSP nouvellement créé, en contribuant à l’excellence de ses formations, et en appuyant son rayonnement international ; participer à la promotion de l’INSP auprès les autorités administratives de nos pays respectifs, pour les inciter à y envoyer des élèves ressortissants de nos pays, afin de leur faire découvrir les systèmes administratifs et politiques français et européen, et ainsi de les sensibiliser et de les former à la coopération intergouvernementale et européenne ;
soutenir les élèves européens de l’INSP dans leur scolarité et les accueillir dans nos associations dès la fin de leur scolarité ;
contribuer à la connaissance des institutions européennes, à la bonne information sur leur mission et leur action et à la connaissance des pays européens, notamment par l’organisation de colloques, de conférences et de rencontres en Europe ; promouvoir la réflexion sur les questions d’action, de gouvernance, de politique et d’administration publiques, de coopération intergouvernementale et européenne, et renforcer la diffusion de l’information sur ces sujets ;
agir conjointement, partager des relations et mettre en œuvre des initiatives et projets d’intérêt commun ; faire vivre les relations d’amitiés entre anciens élèves européens ; élargir le champ d’action et de rayonnement des associations nationales et développer un cadre de solidarité entre anciens élèves européens, conforme et complémentaire aux valeurs et objectifs globaux de la confédération, tels qu’ils étaient énoncés dans son acte fondateur, afin notamment de favoriser la constitution de nouveaux groupes et associations d’anciens élèves européens ;
A cette fin, nous décidons de nous constituer en réseau, au sein de la Confédération des associations nationales des anciens élèves de l’ENA et de l’INSP, et restons ouverts aux autres associations et groupes constitués d’anciens élèves européens qui souhaitent contribuer et prendre part aux activités ci-dessus mentionnées.
Weitere Informationen sind auf der Webseite der AAEENA finden:
https://www.aaeena.fr/article/constitution-du-reseau-europe-au-sein-de-la-confederation-messages-de-daniel-keller-et-de-richard-perron/17/06/2022/791
https://www.aaeena.fr/article/creation-d-un-reseau-europeen-d-anciens-eleves-de-l-ena-et-de-l-insp/13/06/2022/789
Werbeaktion für ENA-Stipendium geplant
Unser Mitglied Martin Schäfer, der als Gesandter an der Botschaft in Paris tätig ist, hat kürzlich ein Gespräch über die Neuausrichtung des INSP mit dessen Direktorin, Maryvonne Le Brignonen, geführt. Der Leiter der Pariser Außenstelle des DAAD, Dr. Christian Thimme, der an dem Gespräch teilgenommen hat, plant nun eine Werbeaktion für das ENA-Stipendium. Er wird, auch aufgrund von Hinweisen von uns, als ersten Schritt einen Verteiler mit allen in Frage kommenden Studiengängen mit deutsch-französischer Ausrichtung erstellen lassen. Vor der nächsten Auswahlrunde sollen dann die Studiengangsleiter gezielt auf das Stipendium aufmerksam gemacht werden.
Darüber hinaus haben wir Kontakt mit der Koordinatorin eines deutsch-französischen Studiengangs aufgenommen, der am Otto-Suhr-Institut in Berlin angebotenen wird.
Wir würden uns freuen, wenn auch unsere Mitglieder in ihrem beruflichen und persönlichen Umfeld für das Studium werben könnten. Mit jeweils nur drei bis vier, im Regelfall allerdings sehr qualifizierten, Bewerbungen werden die Möglichkeiten des großzügigen DAAD-Stipendiums bei weitem nicht ausgeschöpft.
„40 ans de la promotion d’Aguesseau“
Vierzig Jahre nach Abschluss der Zeit an der ENA schlagen Michel Azibert, Pierre Buhler, Henri-Michel Comet, Olivier Darrason, Hervé Digne, Laurence Franceschini, Thierry Lataste, Alain Lombard, André Parant, Hugues Parant und Michel Sappin für den Abend des 30. September ein Treffen der Promotion Henri-Francois d’Aguesseau bei einem Glas Wein vor. Ort des Geschehens soll, wie auch bei anderen Alumni-Veranstaltungen, das Maison de l’Amérique Latine (217, Boulevard St. Germain) sein. Der Aufruf richtet sich offenbar auch an die zehn deutschen Schüler, die im Oktober 1980 in der Rue de l’Université begonnen haben und von denen einer beim Auftakttreffen in Font-Romeu im Januar 1981 den – nicht unumstrittenen – Namen der Promotion in die Diskussion eingebracht hat.
Nur wenige deutsche Angehörige dieser Promotion sind leider bisher Mitglieder bei uns. Daher die Bitte, soweit Kontakt besteht, auf das Treffen hinzuweisen. Anmeldungen erbeten sind bis 31. August, Ansprechpartnerin ist Elvire Comet (info@serviralumni.com).
75 Jahre ENA-Ehemalige
Am 29. September findet in Paris eine Gala anlässlich des 75jährigen Jubiläums der (bisherigen) AAEENA statt. Aus diesem Anlass soll auch ein Sonderheft von „l’ena hors les murs“ erscheinen. Wenn Näheres bekannt wird, melden wir uns mit weiteren Informationen.
„Notizen aus Paris“
Unter dieser Überschrift schickt uns Joachim Bitterlich einige pointierte Beobachtungen aus dem sommerlichen Paris. Es wäre schön, wenn daraus eine regelmäßige Kolumne würde.
„Paris geht bei tropischer Hitze und mit nicht minder hitzigen politischen Gefechten auf die Sommerpause zu: Die neu gewählte Assemblée Nationale wird Zeit zum Nachdenken brauchen, um sich in der neuen Lage zu finden. Die Linke sucht Krawall und scheitert an sich selbst, die extreme Rechte versucht sich rational und fast staatstragend, man will sie aber nicht mitspielen lassen. Und die breite Mitte sucht sich, denkt aber auch wie die andern im Grunde schon an 2027.
An sich wären angesichts der realen Lage und Reformunwilligkeit Frankreichs andere Fähigkeiten des Parlaments gefragt, sprich Dialog und Kompromissbereitschaft. Seit der Wahl habe ich x-mal das Thema «Koalition» und unsere Erfahrungen erklären müssen.
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Unter den Umständen ist Ablenkung willkommen, kein Wunder , dass Berlin wieder schärfer unter Beschuss gerät, Egoismus, mangelnde Solidarität und Fehlen europäischer Politik sind die Stichworte. Ich empfehle als Beispiele den jüngsten Blog von Jean-Dominique Giuliani, dem Präsidenten der Schuman-Stiftung, oder noch mehr den Artikel von Joseph de Weck (den wir ja Ende vergangenen Jahres in Berlin zu Gast hatten), der erklärt, wie man besten Mehrheiten gegen die Berliner unter insgeheimer Führung von Macron bildet, damit die Berliner umfallen.
Nun gut, mit dem 14. Juli wird es ruhiger werden: Luft holen vor einem heißeren Herbst!
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Erfreulich war hingegen die Assemblee Generale der nun ex-AAENA, jetzt Servir mit modernerem Look. Ich war schon erstaunt, wie gut und geräuschlos die doch grundlegende Veränderung lief. Großes Kompliment an Daniel Keller.
Ein bemoll bleibt die unterschiedliche «Status-Behandlung» der nicht-klassischen ENA/INSP-Absolventen, ob CIL oder Master – die ich persönlich bei den Assemblées aber nie gefühlt habe. Mein Mitwirken war immer willkommen!
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Das Treffen der «Internationalen» mit der neuen Direktorin war freundlich-interessiert. Deutlich wurde, wie sehr die neue INSP noch in der Findungsphase steckt, mit einer sehr vorsichtigen neuen Chefin und einem im Aufbau befindlichen neuen Team, immerhin mit einem wieder besetzten Direktor für internationale Beziehungen. Schauen wir mal, wie sich das entwickelt. Wir Deutschen sollten uns um aktive Mitgestaltung bemühen.
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Ein Wort noch zum in Deutschland zu wenig bekannten CHEE, dem Cycle des Hautes Etudes Européennes, einer Art MBA, der sich an den Führungsnachwuchs aus Administration, Wirtschaft und Medien wendet. Aus meiner Sicht eine Klasse-Fortbildung, die Berlin und die Bundesländer interessieren sollte. Bei Bedarf kann ich gerne dazu mehr erzählen.“
Hat sich die politische Welt verändert?
Zu den Wahlen in Frankreich
Rund zwei Monate nach der Wahl des Staatspräsidenten fand am 19. Juni die Stichwahl zum Parlamentl statt. Die Wahlen zur Assemblée Nationale können mehr noch als die antagonistisch angelegte Präsidentenwahl als Seismograph für die politische Stimmung in Frankreich gelten.
Als Ergebnis der Wahlen büßte das Regierungslager „Ensemble Citoyens!“ seine absolute Mehrheit ein, wurde aber mit 245 von 577 Sitzen (38,6 % der Stimmen) immer noch stärkste Kraft, bezogen auf deutsche Verhältnisse, fast einem Traumergebnis. Gleichwohl wird das Ergebnis überwiegend als schwere Niederlage für den Präsidenten gewertet, der nun erhebliche Schwierigkeiten haben werde, sein Programm für die nächsten Jahre umzusetzen.
Als große Gewinnerin feierte sich bereits am Wahlabend die Herausforderin aus der Präsidentschaftswahl, Marine Le Pen, mit ihrem Rassemblement National (17,3 %), der nach acht Sitzen in der letzten Legislaturperiode nun mit 89 Abgeordneten vertreten ist. Vor ihm steht indes das (allerdings sehr heterogene) linke Bündnis Nupes (Nouvelle union populaire ecologique et sociale) mit 131 Sitzen (31,6%), das sich aus der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei, den Grünen, „La France insoumise“ sowie kleineren Parteien zusammensetzt. Deutlich abgeschlagen rangiert die langjährige Regierungspartei der Republicains mit 61 Abgeordneten (7 %) an letzter Stelle. Die Wahlbeteiligung lag bereits in der ersten Runde nach Zahlen des Innenministeriums mit 46,46 % auf niedrigem Niveau, im zweiten Durchgang erreichte sie nur noch magere 42,7%.
Da Präsident Emmanuel Macron damit nur noch über eine relative Mehrheit in der Nationalversammlung verfügt, ist er auf eine Zusammenarbeit mit anderen Fraktionen angewiesen und muss sich zusammen mit Premierministerin Elisabeth Borne um Kooperationen und Kompromisse bemühen (was angesichts seines in der Vergangenheit manchmal als solipsistisch empfundenen Stils nicht von allen Beobachtern als Tragödie empfunden wird). Eine Chance dafür wurde mit der nach der Wahl erfolgten Regierungsumbildung vertan, die erst einmal wenig Entgegenkommen gegenüber oppositionellen Kräften zeigte.
Die Regierungschefin hat in ihrer Regierungserklärung am 6. Juli eine „Partnersuche von Fall zu Fall“ angekündigt und projektbezogene Mehrheiten vorgeschlagen. Sie stehe für eine neue Kultur des Dialogs und der Kompromissbereitschaft. Allerdings waren die ersten Reaktionen aus den anderen Fraktionen nach wie vor von großer Zurückhaltung, Abgrenzung bis hin zur Ablehnung der Regierungspläne geprägt. Kompromisse wurden von manchen Parteienvertretern als unzumutbare Aufgabe der eigenen Positionen bezeichnet, man lehne die Rolle als Mehrheitsbeschaffer für den eigentlichen Wahlverlierer Macron ab. Bereits vor der Regierungserklärung hatten Abgeordnete des Linksbündnisses ein Misstrauensvotum eingereicht, als Reaktion darauf, dass Regierungschefin Borne ihr Regierungsprogramm (allerdings aus naheliegenden Gründen) nicht unmittelbar einem Vertrauensvotum unterziehen wollte. Gänzlich unfroh dürften die Antragsteller darüber nicht sein, hätte doch die Versagung des Vertrauens Neuwahlen mit allen ihren Unsicherheiten und Beschwerlichkeiten nach sich gezogen.
Politisch nicht ohne Raffinesse soll allerdings nunmehr gleich als erstes dem Parlament ein am 7. Juni vom Conseil des ministres beschlossenes Gesetz über die Stärkung der Kaufkraft („Loi pouvoir achat“) vorgelegt werden (siehe unten). Dieses abzulehnen, dürfte für die Opposition nicht einfach sein, gefordert werden könnten allenfalls noch mehr Mittel.
Zu fragen ist, ob das Wahlergebnis zu Recht in erster Linie als Abstrafung des als abgehoben empfundenen „jupitergleichen“ politischen Stils des Staatspräsidenten zu interpretieren ist oder sich darin tiefere Schichten der politischen Kultur Frankreichs manifestieren.
Auf den ersten Blick drängen sich in der Tat Parallelen zum Jahr 1980 auf, als Valéry Giscard d’Estaing, ebenfalls ein Modernisierer mit brillanter Attitude und auf außenpolitischem Felde erfolgreich, an der Wiederwahl scheiterte. Hier scheint eine Neigung zum Ausdruck zu kommen, aristokratische Brillanz heute zwar nicht mehr mit dem revolutionären Schafott, aber mit demokratischen Wahlniederlagen, zu strafen. Ganz so weit wie bei Giscard ist es zwar bei Emmanuel Macron nicht gekommen, wo die Gegnerschaft zu Marine Le Pen die verschiedensten politischen Kräfte vorläufig zusammenführte. Angesichts der neuen institutionellen Rahmenbedingungen, die seit 20 Jahren Präsidenten- und Parlamentswahl im gleichen Takt vorsehen, eröffnete nun aber die Wahl zur Assemblée nationale ein Ventil, politische Unzufriedenheit auszudrücken ohne zugleich das politische System in Frage zu stellen.
Kommentatoren sehen die so entstandenen Mehrheitsverhältnisse wahlweise als „demokratisches Desaster“, befürchten „Chaos“ oder zumindest die Gefahr der Unregierbarkeit. Gerade in einer Zeit gesellschaftlicher Spannungen und großer politischer Herausforderungen wären dies in der Tat unerfreuliche Perspektiven. Zu erinnern ist daran, dass die vergangene Legislaturperiode innenpolitisch von den teilweise gewalttätigen Gelbwestenprotesten und der Corona-Pandemie geprägt war. Inzwischen dominierten der Krieg Russlands gegen die Ukraine und die zunehmende Unsicherheit und Furcht vor steigenden Lebenshaltungskosten den politischen Alltag. Dazu kommen Reformnotwendigkeiten beispielsweise auf den Gebieten der Finanzen und der Altersvorsorge.
Nun wäre die Lösung des Problems ganz einfach die Bildung einer Koalitionsregierung, was aber von den idealen Kandidaten dafür, den mitte-rechts angesiedelten Républicains, spornstreichs abgelehnt wurde. Die Behauptung, eine Kultur des politischen Kompromisses sei Frankreich fremd, strafen die III., die berühmte „Republik der Kameraden“, und die IV. Republik Lügen. So werden es die Institutionen der V. Republik sein, die zu einer scharfen Scheidung der politischen Kräfte im Hinblick auf die als Duell ausgestaltete Wahl des Staatspräsidenten führen. Das parlamentarische Mehrheitswahlrecht kann – anders als in Großbritannien oder den USA – indes dafür nicht verantwortlich gemacht werden. Kaum zu übertreffen dürfte die bunte Vielfalt der nun ins Parlament gelangten politischen Strömungen sein, wo die taktischen Wahlbündnisse zugleich wieder in eine Vielzahl von Gruppen zerfallen. Die Regierungsseite kann möglicherweise im Laufe der Zeit auf ein Abbröckeln einzelner dieser Gruppen hoffen, die sie auf ihre Seite ziehen kann. Ganz einfach wird dies jedoch nicht werden, hat Macrons neue Bewegung doch in Frage kommende Kräfte sowohl rechts als auch links absorbiert und dort somit nur den noyeau dur zurückgelassen.
Gerade die instabile Struktur der Parteien gibt der Suche nach wechselnden Mehrheiten indes wohl eine Chance, obwohl der Abstand der Regierungspartei zur absoluten Mehrheit deutlicher als in früheren Zeiten der cohabitation ist und es nicht mehr genügt, einzelne Abgeordnete mit was auch immer zu verführen. Resultat der aktuellen Mehrheitsverhältnisse dürfte somit zunächst das Aufschieben größerer und politisch umstrittener Reformprojekte und eine Beschränkung auf die laufenden Geschäfte sein.
Für beide Lager – Regierung und Opposition – könnte die Stunde, diesen Zustand zu ändern, in einer Zeit der Krise kommen. Für den Staatspräsidenten, der das Parlament in einer Zeit der Not auflösen, für die Opposition, die unter umgekehrten Vorzeichen, etwa nach einem Skandal, die Regierung stürzen könnte. Bis dahin allerdings ist eine Periode mannigfaltiger parlamentarischer Manöver zu erwarten, wo die oppositionelle Mehrheit zunächst insgesamt am längeren Hebel sitzt.
Die politische Agenda ist reich bestückt: Wachsende Inflation, sinkende Kaufkraft, die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums bleiben weiterhin zentrale Fragen in der politischen Auseinandersetzung. Dazu kommen die geplante Rentenreform und immer auch die Migrations- und Sicherheitspolitik. Sehr kontrovers ist die Diskussion um die Themen Europa und die Globalisierung: Sowohl auf dem rechten wie auch auf dem linken Rand des politischen Spektrums werden EU und Nato abgelehnt und der „Vorrang für Franzosen und französische Interessen“ gefordert. Dazuhin rücken wegen der steigenden Energiepreise vor dem Hintergrund des russischen Angriffs der Ukraine und der ersten Hitzewelle im Mai/Juni Energie- und Klimapolitik erneut in den Vordergrund.
In ihrer Regierungserklärung am 6. Juli kündigte Regierungschefin Elisabeth Borne nun eine Reihe von Vorhaben an: ein Notgesetzpaket im Umfang von 50 Mrd. Euro zur Stärkung der Kaufkraft, Vollbeschäftigung und Haushaltssanierung sowie „einen radikalen Umbau hin zu einer ökologisch nachhaltigen Gesellschaft“. Als eine der ersten Maßnahmen kündigte sie zudem die vollständige Verstaatlichung der EdF an (das Unternehmen soll sich aktuell in großen Schwierigkeiten befinden, nach Le Monde sollen allein 29 von 56 Reaktoren derzeit still stehen) und wies, auch um den Übergang zu einer CO2-neutralen Volkswirtschaft zu bewältigen, auf die Unverzichtbarkeit der Atomenergie hin. Der Rundfunkbeitrag wird, wie vom Staatspräsidenten angekündigt, aufgehoben. Weiter betonte sie die Notwendigkeit der Rentenreform – ohne sich jedoch auf konkrete Zahlen zum Pensionsbeginn festzulegen – sowie die Verpflichtung zu ausgeglichenen Staatsfinanzen als eine Verpflichtung gegenüber den nachfolgenden Generationen. Auf ein Vertrauensvotum verzichtete die Regierungschefin wohlweislich.
Veranstaltungen des Deutsch-Französischen Kulturbevollmächtigten
Im Büro des Deutsch-Französischen Kulturbevollmächtigten, des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Hendrik Wüst, sind – bestens durch die ENA vorbereitet – bislang drei unserer Mitglieder tätig: Dominik Fanatico als Leiter sowie Martin Boekstiegel und Theresia Strümpfel. Mit zwei Veranstaltungen, zu denen auch unsere Mitglieder eingeladen waren, machte das Büro in Berlin auf seine Arbeit aufmerksam: Am 15. Juni stellte in Anwesenheit von Botschafterin Anne-Marie Descôtes der Herausgeber Olivier Guez das zur EU-Präsidentschaft erschienene Buch „Europa erlesen. Ein literarisches Selbstportrait Europas“ vor und am 22. Juni folgte eine exklusive Preview der deutsch-französischen Film-Koproduktion nach dem Buch von Antoine Leiris „Meinen Hass bekommt ihr nicht“.
Nachdem die Amtszeit des derzeitigen Kulturbevollmächtigten Ende des Jahres abläuft, wird derzeit auf der Ebene der Ministerpräsidentenkonferenz über die Nachfolge beraten. Interesse besteht sowohl in Baden-Württemberg als auch im Saarland.
Neue Ausgaben von „l’ena hors les murs“
Eingetroffen sind zwei neue, umfangreiche (150 bzw. 126 Seiten) und wie immer sehr lesenswerte, Ausgaben des Magazins der französischen Alumni. In No. 512 geht es um „Les nouvelles pratiques culturelles“, ein ganz besonders französisches Thema, No. 513 widmet sich dann der großen Sorge der französischen Kollegen und Kolleginnen: „La haute fonction publique en question“, heißt es da.
Einleitend berichtet Kulturministerin Roselyne Bachot im ersten Heft über die Ergebnisse einer 2020 – wie alle zehn Jahre – durchgeführten Umfrage über „les pratiques culturelles des Francais“. Erfreulicherweise habe sich der Zugang zur Kultur, wenn auch mit großen Unterschieden im Einzelnen, ausgeweitet: Während die Babyboomer noch den „klassischen“ Kulturangeboten (Bücher, Museen, Kino, Aufführungen) treu bleiben, stehen für die Jugendlichen (15 bis 24 Jahre) eindeutig digitale Angebote, auch mit ihren Schattenseiten (Isolation, „Blasen“), im Vordergrund. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, wurden in gut administrativer Weise zwei neue Arbeitseinheiten im Kulturministerium geschaffen, die sich u. a. der „démocratie culturelle“ und einer „stratégie numérique culturelle“ widmen.
Seit Beginn dieses Jahres wird Jugendlichen von 15 bis 17 Jahren ein „pass Culture“ angeboten, der während fünf Jahren Leistungen im Wert von 200 Euro umfasst. Für 18jährige sieht er Leistungen in diesem Zeitraum im Wert von 300 Euro für Bücher, Kino, Kauf von Musikinstrumenten vor. Bis Ende dieses Jahres werden 4 Mio. Nutzer erwartet.
In gut französischer Weise geht es der Ministerin weiter um die Förderung kultureller Inhalte („contenus culturels de demain“) und ihrer Produzenten im audiovisuellen Bereich und bei Filmproduktionen, die bis 2030 mit 600 Mio. Euro gefördert werden sollen. Kulturinstitutionen sollen für digitale Angebote geöffnet werden. Gegenüber den großen Digitalunternehmen soll auf europäischer Ebene für angemessene Vergütungen für geistiges Eigentum gesorgt werden.
Neben der Digitalisierung werden Erfahrungen mit den Einschränkungen der Pandemie für die verschiedensten kulturellen Einrichtungen untersucht. In allen diesen Bereichen spielen eine „dématerialistion“ sowie „hybridisation“ (Präsenz und Digital) kultureller Angebote durchgehend eine Rolle. Angesichts dieser Modernität bemerkenswert ist ein Kommentar von Bernard Dujardin (Charles de Gaulle, 1972), der gegenüber den „neuen kulturellen Praktiken“ die Bedeutung der klassischen culture générale hervorhebt und das Verschwinden des homme cultivé bedauert.
Besondere Artikel sind der, in Frankreich besonders beliebten „9. Kunst“ der Comics und den Computerspielen gewidmet. Ungebrochen ist die Schreibfreude der französischen Alumni, von denen der unermüdliche Robert Chelle wieder sechs Werke zwischen Sachbuch, Theaterstück und Roman vorstellt.
Das der Haute Administration gewidmete Heft wird vom damalige Premierminister Jean Castex, ebenfalls einem „Ehemaligen“, eingeleitet. Er hebt die mit der Gründung des INSP verfolgte Professionalisierung der Ausbildung der Spitzenbeamten hervor. Nur im Nebensatz wird erwähnt, dass dies – ehernes Gesetz jeder Verwaltungsreform – mit einer Vermehrung des Personals und der Haushaltsmittel verbunden ist. Offenheit und Mobilität sollen mit der Abschaffung der bisherigen Corps erhöht und jede Beförderung mit einer Versetzung verbunden werden. Nicht am allerunwichtigsten, sogar „die ehrgeizigste Reform seit 1945“, sei die geplante Vereinheitlichung und Transparenz der Besoldung, im deutschen Öffentlichen Dienst schon immer eine Selbstverständlichkeit.
Der Vorsitzende der AAEENA, Daniel Keller, höchstpersönlich interviewt die neue Direktorin des INSP Maryvonne Le Brignonen. Dabei unterstreicht die Direktorin, dass man wegen des Verlusts der international angesehen „Marke“ ENA enger mit den ausländischen Schülern und ihren Vereinigungen zusammenarbeiten wolle. Verstärkt werden soll auch die Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Verwaltungsausbildung, in Deutschland insbesondere mit der Berliner „Hertie School“. Im Hinblick auf die deutsche Präsenz besteht möglicherweise weiterer Klärungsbedarf wegen der im Interview geäußerte Absicht, mehr Schüler aus den EU-Mitgliedstaaten aufnehmen zu wollen.
In zahlreichen Beiträgen werden verschiedene Verwaltungszweige dargestellt. Interessant ist im Hinblick auf die deutsche Diskussion über Schwächen des militärischen Beschaffungswesen die „Direction générale de l’Armement“. Frankreich verfügt dort über ein Corps von 950 spezialisierten Ingenieuren, die für die Rüstungsplanung und deren Umsetzung verantwortlich sind. Weiter werden Querschnittsfragen wie „la féminisation de la haute fonction publique“ untersucht, wo es bei der ersten Promotion des INSP schon eine Steigerung des Frauenanteils von 37,34% der „alten“ ENA auf 44% gegeben habe.
In dem Heft kommen auch kritische Stimmen zu Wort. Die französische Tradition sehe den Staat als Reaktion auf die „excès détestables de l’ancien régime et du capitalisme industriel du XIXe siècle“, als „le sauveur et le protecteur du peuple“, der nicht kontrolliert werden müsse. Dem gegenüber gelte der Staat in der angelsächsischen Tradition eher als möglicher Unterdrücker der Freiheit der Einzelnen. Gefordert wird als Paradigmenwechsel, dass die Spitzenbeamtenschaft sich nicht länger als „meritokratische Aristokratie“ sehen dürfe, die die Bürger mitunter wie Kinder behandele. Kritisiert wird weiter ein nationalisme administratif, dem es an Weltoffenheit mangele. Folgerichtig wird der Blick auf andere Verwaltungen – wie die von Quebec, Italien und Großbritannien – geworfen. Bemerkenswerterweise fehlt hier Deutschland.
Interessant ist eine Analyse der EU-Kommission mit ihren insgesamt 40.000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die weitestgehend vom britischen Stil des „néo-management“ der Achtzigerjahre geprägt sei. Deutlich werde dies bei den Aufnahmewettbewerben, wo es seit den 2010er Jahren nicht mehr um solide juristische, ökonomische oder politische Kenntnisse gehe, sondern um „scills“.